Fotografierst du noch oder knipst du schon?

In vielen Diskussionen in Internetforen geht es immer wieder um die Frage, ob man eine spezielle Kamera braucht, um gute Bilder zu machen oder ob man Workshops besuchen sollte, z.B. für Bildkomposition oder entfesseltes Blitzen. Alles konzentriert sich auf Ausrüstung und die nötigen Skills, sie zu bedienen. Halt das übliche Palaver zwischen fotografierenden Nerds.

Ganz selten verirrt sich ein Fotografiestudent in solche Threads und stört die heile Welt mit Bildern, die a) nicht gut aussehen und b) man nicht versteht. Auch kann der Technikverliebte gleich sehen, dass eine Filmkamera in vorhandenem Licht eingesetzt wurde. Keine High-end Digicam? Kein ausgeklügeltes Lichtsetup? Unverständnis auf der ganzen Linie.

Was lief falsch? Die Forenten erwarten gefällige Bilder, so wie sie sie auch gerne produzieren. Der Fotografiestudent dagegen versuchte eine Geschichte zu erzählen oder ein Konzept in Bilder umzusetzen. Der Fotoapparat stammt tatsächlich vom Flohmarkt oder von Opas Dachboden und der Schwarzweißfilm wird dann selber in der Dunkelkammer entwickelt wie vor 100 Jahren.

Die Aufnahmen entstanden übrigens abends in seiner Studentenbude, die er am folgenden Tag für einen mehrmonatigen Auslandsaufenthalt zurücklassen sollte samt seiner Freundin, die auf den Bildern eingewickelt in Vorhänge und anderes zu sehen war. Eindrücklich und beklemmend, spiegelten sich Gefühle des Abschieds, der Unsicherheit und einer beginnenden Entfremdung wieder.

Auf Instagram hätten die Fotos nicht minder verstört. Auch dort allenthalben Gefälliges, Dekoratives, Narzisstisches. Aber eine Gemeinsamkeit fällt mir auf: auch dort ist der Bildstil von Smartphones geprägt, Knipsen ist das neue Fotografieren. Da mögen sich die alten Herren um die 50 in den Online-Diskussionen noch so sehr wundern, weshalb sie so schwer junge Damen finden, die von ihnen aufwändig fotografiert werden möchten und das sogar kostenlos. Man glaubt es kaum, es füllen sich regelmäßig ganze Seiten mit solch geartetem Rätseln.

In all den Jahren, in denen ich mich mit Fotografie abmühe, komme ich immer wieder auf die Bilder zurück, die mich persönlich berühren. Meine Oma vor dem Familiengrab, in dem sie wenige Jahre später selber liegen würde. Ich erinnere mich an unseren gemeinsamen Spaziergang auf dem Friedhof, dass wir offen über Tod und Verlust gesprochen haben. All dies verbinde ich mit dem Bild. Es wäre nicht entstanden, wenn ich nicht zu ihr gefahren wäre und wir nicht Zeit miteinander verbracht hätten.

Eigentlich ist es eine tolle Sache, wenn man jederzeit zum Nulltarif solche Szenen festhalten kann. Unser Leben besteht ja nicht nur aus Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Abi-/Tanzkursabschlussball, wo aufwändige Bilder, oft von Profis, entstehen, die dann auf dem Kaminsims oder auf dem Nachtkästchen stehen. Viele verbinden auch nicht allzu viel mit solchen Feierlichkeiten, man absolviert sie, weil es dazu gehört. Das Leben findet mehr dazwischen statt. Und ich sehe es als enorme Herausforderung, Besonderheiten zu sehen und festzuhalten, wenn es die eigene Familie betrifft. So eine Feier kreativ zu fotografieren ist keine leichte Aufgabe. Einfacher ist es, einen hübschen Menschen im Sonnenuntergang vor eine Kamera zu schubsen, weil es belanglos ist, weil man sich nicht der Beziehung zu einer Person stellen muss.

Fragt man Leute, was sie im Leben versäumt haben, folgt häufig die Antwort, zu wenig Zeit mit der Familie verbracht zu haben. Warum ist das eigentlich so? Setzen wir selbst falsche Prioritäten oder werden wir von unseren Angehörigen gezwungenermaßen ferngehalten? Ich denke, jeder kann für sich selbst beantworten, welche Tätigkeiten ihm die Zeit rauben, die dann woanders fehlt.

Das höchste Ziel für einen Fotografen ist, autochthon zu sein, im Fluss, selbstvergessen im Sehen und Festhalten. Da stört die Schere im Kopf, die „Beziehungskiste“, der Alltag, die uns alle limitieren und lähmen. Wie oft klagen wir, dass die Zeit so schnell vergeht! Wir machen aber keinen Versuch, sie zu verlangsamen. Eigentlich leben wir viel zu oft an uns selbst vorbei.

Gut, dass man durch Schnappschüsse Erinnerungen festhalten kann. Ich nehme mir vor, es häufiger zu tun.

Zum 112. Geburtstag meiner Oma Else Spilling, geb. Baruch. Titelbild: Ihre Hände wenige Monate vor ihrem Tod. Am Baruch-Familiengrab mit den gravierten Namen der Eltern Johann und Margarete Baruch im Jahr 2000. Beim Baggersbraten, als sie uns das letzte Mal in Bayreuth besuchte.