Intensiv-Schwarz

Über ein Jahr ohne Blogartikel ist ins Land gegangen und ich stelle fest, dass man nicht nur Zeit haben muss, um etwas zu schreiben, sondern vor allem, um zuvor etwas Neues zu erleben.

Wie praktisch, dass mich ein guter Freund genötigt hatte, einen Workshop bei Jean Noir zu buchen. Wer sich nicht durch endlose Texte meines verwirrten Blogs pflügen möchte, findet hier meinen letzten Bericht zu einem Workshop (bei Stefan Gesell) vor fast drei Jahren: Anonyme Workshopholiker

Tatsächlich hat es lange gedauert, bis ich mich wieder on the road zu neuen fotografischen Erkenntnissen befand. Ehrlich gesagt, ich war ein bisschen fertig von einer weiteren anstrengenden Arbeitswoche (der Grund für meinen derzeitigen Zeitmangel: ein 39-Stunden-Hobby mit üppiger Pendlerpauschale) und so schleppte ich mich mit drei(!) Kamerataschen an einem Samstag morgen südlich von Frankfurt ins Noir-Bootcamp.

Das wichtigste Gerät im Studio hatte ich gleich lokalisiert, die Kaffeemaschine, und nach ca. sechs größeren Humpen war mein Gehirn einsatzbereit. Wer jetzt irgendetwas über Kameraeinstellungen oder Lichtformer erfahren will, switche zu einem Youtube-Channel von Kaplun oder Jaworskij, da ist es nett. Wer die rote Pille schlucken möchte und tief ins rabbit hole der People-Fotografie und ihrer Psychologie hinabsteigen will, der bleibe hier.

My comfort ist my castle

„Intense“ heißt der Workshop, weil er sich anders definiert, weil hier kein beliebiges hübsches Mädel vor die Kamera geschubst und mit „Yes-Baby“-Rufen ein paar weitere belanglose Pixel eines fremden Menschen auf die SD-Karte gebannt wird. Zuerst einmal sind wir, die drei Teilnehmer, gefordert zu überlegen, warum wir unsere Fotografie weiterentwickeln wollen. Sind unsere Bilder langweilig geworden? Haben wir es uns in unserer comfort zone gemütlich gemacht und sind darin stecken geblieben? 

„Ehrlich währt am längsten“ …

… und so sprechen wir sehr offen über die Philosophie hinter unserer Passion. Fast hat das Ganze etwas von einer Selbsterfahrungsgruppe in einer WG, mit sehr leckerem Frühstücksessen statt Drogen und fast ohne Zeitlimit. Wer gerne aus dem Bauch lebt und vermeidet, sich selbst zu reflektieren, mag sich hier fehl am Platze vorkommen. Die heutige Truppe ist aus dem rechten Holz geschnitzt und bereit, die eigenen Motivationen zu hinterfragen:

Gretchenfragen en noir

  • Fotografiere ich nur hübsche Menschen? 
  • Käme mir eine 82-Jährige/ein 82-Jähriger vor die Linse?
  • Muss mein Model in Tränen ausbrechen, damit das Bild etwas aussagt?
  • Will ich gefakte Emotionalität oder Authentizität?
  • Mache ich Bilder für die Likes?
  • Wieviel Zeit verschwende ich auf Insta und Co., um die Langeweile zu vertreiben?

Kurzum: bin ich fremdgesteuert oder bestimme ich, was, warum und wie ich etwas bildlich festhalte.

Work, work, work …

Im zweiten Teil machen wir uns an die Erstellung eines Mood Boards. Jean hat ein sehr gut gefülltes Pinterest-Konto und wir assoziieren Gefühle und Erlebnisse zu ausgewählten Bildern und stellen peu à peu dann Fotos zusammen, die uns ansprechen und die wir im anschließenden Shoot mit dem mittlerweile eingetroffenen Model im Hinterkopf behalten. 

Jeans Bilderstil ist geprägt durch hohe Kontraste mit dominanten Tiefen und optischen Brechungen/Reflektionen. So viel sei verraten, dass viele der Effekte tatsächlich fotografisch entstehen und nicht später am Computer hineinkomponiert werden. Es zerbrechen insgesamt 3 Glasscheiben, während wir mit unseren Kameras im Anschlag unser Model umrunden, um den besten Winkel zu finden. Gobos mit LED-Licht, teilweise von einem Smartphone, kommen zum Einsatz und wir assistieren uns gegenseitig. Wir sind in der kurzen Zeit eine eingeschworene Truppe geworden.

In den letzten 2–3 der insgesamt 10 Stunden geht es dann um Social Media Promotion und Jeans Photoshop-Workflow. Da keiner der Anwesenden von der Fotografie lebt (außer dem Leiter selbst), ist Self-Marketing für uns kein großes Thema, Photoshop aber umso mehr. Auch hier gehe ich nicht ins Detail, denn dazu ist schließlich persönliches Coaching da. Ich fasse zusammen: Dodge-and-Burn kommt überraschenderweise nicht zur Anwendung und das will wirklich etwas heißen.

Shut up and take my money

Vor jedem Workshop stellt sich die Frage, ob es sich lohnt, Zeit und Geld zu investieren. Manchem ist es genug, Models zu sharen, Kollegen kennenzulernen, ein unbekanntes Lichtsetup zu erforschen uvm. Wer zu Jean kommt, sollte sich im Klaren sein, dass er keine Technikorgie im Hochglanzstudio durchleben wird (nicht, dass es nicht gut ausgestattet wäre), sondern, dass man sich mit einfachen Mitteln fotografisch ausprobiert.

Man kann über Jahre hinweg reproduzieren, was die Medien in unserem Kulturkreis uns vorgeben, die allgegenwärtigen Bilder, die wir im Kopf herumtragen, die sich dort festgesetzt haben. Wir schauen unser Instagram-Konto an und sehen, dass dort nichts wirklich von uns ist, und daher ist es uns letztlich fremd, wenn wir ehrlich zu uns sind.

Es ist genau mein Humor, wenn man auf einem Workshop, der einem ja einen besonderen Bildstil beibringen will, feststellt, dass es um etwas ganz anderes geht, nämlich darum, das innere Kind zu finden, das mittlerweile mit Kamera bewaffnet, sich den eigenen Emotionen, Träumen und Traumata stellen kann. Und auch dazu gibt es wieder ein passendes Picasso-Zitat …

„Jedes Kind ist ein Künstler. Das Problem ist nur, ein Künstler zu bleiben, während man erwachsen wird.“

Pablo Picasso

Im Falle Jeans möchte ich noch ergänzen: zum Erwachsensein gehört auch, von seiner Kunst leben zu können.