Leidenskollegen

Künstler sind systemrelevant

Still ist es geworden ohne Konzerte, Straßenmusiker, Amateurtheater, Vernissagen. Im letzten halben Jahr seit Ausbruch von SARS-CoV-2 haben vor allem Kleinkünstler und Soloselbstständige unter Berufsausübungsverboten gelitten. Verständlich sind die Gründe, wer möchte nicht Ansteckung verhindern, aber mit Fortdauer der Einschränkungen fragt man sich, wie sich Kultur in das neue Normal retten lässt. Oder muss man Vieles neu denken? 

Unter dem Hashtag #kunstistsystemrelevant kann man auf den Social Media viel zum Thema lesen. Für mich sind die Künstler, nicht die Kunst, systemrelevant, was zugegebenermaßen nur eine Nuance, eine andere Gewichtung ist. Ich möchte gerne die Betroffenen fragen, wie sie mit der Situation zurechtkommen. Was ist wichtig geworden in der Zeit von Kontaktbeschränkungen, hat sich der Blick auf die eigene Arbeit verändert? Wie verändert uns dieser Ausnahmezustand …

Am Sonntag, dem 13.9., war ich auf AEG in Nürnberg unterwegs, auf langen, düsteren Fluren, vorbei an Türen mit Künstlerateliers dahinter. Ich treffe mich mit Julia Jobst, alias Ophelia Belladonna, die ich vor einigen Jahren bei einem gemeinsamen Freund kennenlernte. Damals berichtete er mir von ihrem Buch, „Noemi“, das Thema Magersucht in autobiografischen, aber auch fiktiven Szenen skizzierte.

Im Jahr 2020, mitten im Coronawahnsinn sitzen wir uns also in Julias Maleratelier gegenüber und ich fragte gleich als erstes, wie es ihr in den vergangenen Monaten so ergangen ist. Natürlich seien die Einnahmen gesunken, erklärt sich mir, da sie früher vor allem durch Ausstellungen Bilder verkaufen konnte und ihr auch die Künstlertreffs fehlten, in denen man Netzwerke pflegen könne. Erfreulicherweise habe sie auch eine bayerische Überbrückungshilfe erhalten, die aber auf die Dauer der Ausfälle gesehen, nur eine kleine Unterstützung gewesen sei, so Julia.

Man muss auch bedenken, dass diese Einmalhilfen nicht für Mietzahlungen oder Lebenshaltungskosten verwendet werden dürfen, sondern allein für Betriebskosten gedacht sind. Bei Kleinkünstlern dürften aber gerade Letztere die geringsten Kostenfaktoren darstellen. Ein Musiker mit Gitarre, ein Maler mit Pinseln und Farben oder ein Videofilmer mit Equipment haben ja meistens keine gewerblichen Räume angemietet, gerade um die Kosten niedrig zu halten. Meistens reichte es in der Vergangenheit gerade, um ein Auskommen zu erwirtschaften.

Julia hat seit einigen Jahren ein Atelier für ihre Malerei mit einem Künstlerkollegen zusammen angemietet, zu dem sie einige Zeit mit dem Zug unterwegs ist. Immerhin gibt es in dem alten Bürogebäude Toiletten, Strom und fließendes Wasser für Tee. Wir brühen uns gleich einen auf und schlürfen aus bunten Emailletassen vor uns hin.

Es gibt viel zu entdecken in dem Kreativchaos, ich schaue mir Bilder an, abstrakte und gegenständliche. Nur auf einer einzigen Arbeit scheint es eine männliche Figur zu geben, ein behörntes Fabelwesen. Ansonsten begegnen mir viele Alter Egos von Ophelia und da ich eine Fotografin mit Hang zu Inszenierungen bin, bitte ich Julia um eine Art Doppelporträt mit dem Werk, an dem sie momentan arbeitet (siehe Titelbild). Auf diesem sieht man eine Frau, die ein Herz in der Hand hält, und aus dem eine Pflanze wächst, vielleicht ein Baum aus Blutfontänen, auch eine Blume mit Dornen ist dabei und wiederkehrende Motive wie der Vogel und ein Schlüssel sind zu finden.

Hier zeigt sich eine Innenwelt, eine Art Traum, die symbolhaft eine Person darstellt, die das Herz ungeschützt vor sich herträgt. Wir müssen beide gar nicht so viel über Interpretationen sprechen, Julia hat schon sehr viel über sich, ihre Kunst und ihr Buch gesagt, außerdem muss man sich einfach auf ihre Gemälde und Grafiken einlassen, man muss nicht alles verstehen oder zu erklären versuchen.

Julia erzählt mir, dass ihre Bilder in langen Arbeitsphasen heraus entstehen, wo sie im Flow ist, weniger aus vorgefassten Konzepten. So sei ihre Mediengestalterausbildung eine Sackgasse gewesen, weil viel zu technisch und zu fremdbestimmt. Das Künstlerindividuum müsse sich ständig ausdrücken. Einige Zeit habe Julia aber auch eine Galerie in Nürnberg geführt und Auftragsarbeiten angenommen. Das sei sogar gut gelaufen, habe sich aber auf Dauer als Einzelinhaberin als zu anstrengend erwiesen.

Die Eingangsfrage, ob Kunst systemrelevant sei, ist für Julia einfach zu beantworten, es ist ihr eine innere Notwendigkeit und kein Virus könne dies aufhalten. Die Frage stellt sich dann, wie man die Umsatzausfälle kompensieren könnte. In der Gastronomie kellnern fällt mangels Jobangebote ja auch aus. Hier kommt es Julia zugute, dass sie schon seit einigen Jahren modelt, was in der Coronazeit zumindest im Freien möglich war. Viele Fotografen, ich eingeschlossen, haben nach langer Zeit der Shootingabstinenz wieder neue Ideen und geradezu einen Aufholbedarf nach fotografischen Projekten. Wer Interesse an einer Zusammenarbeit hat, kann sie unter dem Namen Ice Queen in der Modelkartei oder unter Ophelia Belladonna auf Insta kontaktieren. Auch über diesen Weg kann man „Noemi“ bei ihr direkt beziehen.

Wenn man dieser kulturarmen Zeit etwas Gutes abgewinnen will, so könnte man sagen, es sei eine Zeit der erzwungenen Entschleunigung gewesen. Anfänglich unfreiwillig, aber nach einer gewissen Zeit vielleicht sogar willkommen, konnte man doch darüber nachdenken, welche der üblichen, gewohnheitsmäßigen Aktivitäten wirklich wichtig sind, welche man vermisst hat, welche man nicht mehr wieder aufnehmen möchte. Es wird sich zeigen, wie lange unser Leben auf kleiner Flamme weiterbrennen soll und ich hoffe natürlich, dass es nur eine relativ kurze Periode sein wird.

Gerne hätte ich einen Blick in die anderen Ateliers geworfen, an denen wir auf dem Hinausweg vorbeigehen. Das Haus soll in absehbarer Zeit abgerissen werden, was wieder ein Stück Künstlerkultur ins Nirvana oder eigentlich in ein weiteres modernes Bürogebäude überführt.

Und für alle Kamera-Nerds hier noch meine Pentax 645D mit dem 55/2.8, mit der alle Bilder hier entstanden sind.

SUPERpixel vs. CameraMAN

Fotografierende Bildbearbeiter

Die Freunde des Photoshopbastelns brauchen ständig Material für ihre Compositings und Pixelschubsereien. Was liegt näher, als eine Digitalkamera neueren Datums zu zücken und auf alles zu halten, was nicht bei drei auf dem Baum ist? Heutzutage ist es auch kein Hexenwerk mehr, einen Chinablitz aufzustellen nebst Lichtformer und das fotografische Objekt vor einen einfarbig-neutralen Hintergrund zu platzieren. Vor nicht allzu langer Zeit war das die Domäne von Fotografenmeistern mit HWK-Mitgliedschaft und zudem mit erheblichen Investitionen verbunden.

Ein Bildbearbeiter kann im Prinzip überall fotografieren, wo das Licht ihm zusagt, also auch draußen bei wolkigem Himmel und danach tauscht er nach Herzenslust Hintergründe aus und fügt noch andere Gegenstände ins Bild ein, er komponiert, was das Zeug hält, gleicht Farbstiche aus oder fügt Farbigkeiten hinzu.

Manch einer rümpft darüber die Nase, ähneln die Bilder doch oft Gemälden, jedoch ohne Pinselstrich,  eher künstlich-gepixelt, je nachdem wie arg es der Digital Artist übertrieben hat.

Bekanntester Vertreter dieser Zunft ist Calvin Hollywood, der mit seinen ausgetüftelten Bearbeitungstechniken noch aus jedem faden Bild ein interessantes Werk zaubern konnte und netterweise auch bereitwillig anderen zeigt, wie sie das auch so hinbekommen können. Calvins Blog

Selbstverständlich gehöre ich auch zu dieser Gattung der Computertäter. Fotografieren empfinde ich als anstrengend und schweißtreibend. Am liebsten unterhalte ich mich gemütlich kaffeetrinkend mit meinen Models und deren Begleitpersonen. Ich plane maximal zwei Shoots pro Tag und versuche, nicht länger als eine gute Stunde für jede Session aufzuwenden, da die besten Aufnahmen bei mir sowieso am Anfang entstehen, wenn ich noch voll konzentriert bin. Kaum füllt sich meine Karte mit Bildern, werde ich hibbelig und möchte zur Postproduktion schreiten, aber hurtig. Schnell alle Leute heimschicken und in den Fotoladen abtauchen.

Bildbearbeitende Fotografen

Ich verlasse also den mir bekannten Pfad als Dilettantin hinter der Kamera und blicke auf die andere Seite, die Menschen, die leidenschaftlich gerne unterwegs oder stundenlang mit wachsender Begeisterung im Studio fotografieren. Wer Peter Lindbergh kennt, weiß, der rennt auch noch im hohen Alter mit seiner Kamera durch Paris, zig Stunden lang. Wahnsinn!

Jay Maisel, der ebenfalls im fortgeschrittenen Alter noch tagelange Workshops zum Thema Street Photography gab (momentan pausiert), fetzt seit 60 Jahren durch Manhattan. Das muss man mal gesehen haben (es gibt ein Video-Porträt über Jay).

Was beiden Vollblutfotografen gemein ist, sind Angestellte, die den digitalen Workflow ab Fallenlassen der SD-Karte übernehmen. Dampfmaschinen wie Peter oder Jay kann man nicht stundenlang hinter einem Computerbildschirm Pixel zählen lassen.

Superman und/oder Batman

In der Schule gab es die Sportskanonen und die Tüftler, die Schach spielten. In der Medizin gibt es die durchgreifenden Skalpellkünstler und die Analytiker à la Dr. House. In der Fotografie gibt es die Fotografen und die Bildbearbeiter. Sicher ist es möglich, dass man beides gut kann, aber eines wird einem immer mehr liegen.

Jeder Bildbearbeiter, der fotografiert, ist gefordert, sich mit den fotografischen Realitäten auseinanderzusetzen, Studioblitze sorgfältiger ein-/aufstellen (ach, da nehme ich einen Spotstrahler auf einer Ebene mit Modus weiches Licht), dem Model erklären, worauf es beim Posing ankommt (hm, da verflüssige ich am Bildschirm ein bisschen), nur nicht hudeln!

Die andere Seite der Medaille

Wenn ich Bilder im Internet anschaue von bekennenden Photoshop-Abstinenzlern, finde ich gute Aufnahmen, denen irgendetwas fehlt, das gewisse Etwas, das es braucht, denn heutzutage geht man in der Fotoflut unter, wenn man nicht digital aufpeppt.

Die Frage aller Fragen (Fotografenversion)

Die Frage, die sich wohl jeder Fotobegeisterte einmal stellen muss:

Warum fotografiere ich eigentlich?

Warum stehe ich früh um 4 vor Sonnenuntergang auf und krabble mit Stativ auf einen Berg im Fichtelgebirge, um vom Asenturm aus Bilder von den in orange getauchten Nadelbaumwipfeln zu machen? Sagte ich ich? War symbolisch gemeint, ich würde auch im Antilope Canyon erst um die Mittagszeit eintrudeln, denn Landschaft ist nicht mein Thema.

Urbanes Leben dagegen schon. Im Mai 2015 sprintete ich um 5 auf die Brooklyn Bridge in New York, um die Skyline bei Sonnenaufgang zu fotografieren. Ein Motiv, das jeder kennt und möglicherweise auch schon selber in Bits und Bytes verewigt hat. Warum quält man sich dafür aus dem Bett? Bei allen Microstockanbietern bekommt man für ’nen Appel und ein Ei wesentlich schönere Fotos vom Big Apple zu allen Tages- und Jahreszeiten.

Olaf Giermann schreibt auf dem Docma-Blog

Fangen wir von Sehenswürdigkeiten gar nicht erst an … Die wurden schon von Millionen Menschen vor Ihnen fotografiert! Von allen Seiten. Egal wie gut Sie sind, es gibt mit hoher Wahrscheinlichkeit aktuell, früher oder später immer jemanden, der das irgendwie besser oder irgendwie anders kann.

Warum sollten Sie also überhaupt noch fotografieren? Es gibt doch schon tausende Fotos davon!

Wenn Sie so denken, sind Sie in die größte Stolperfalle der Fotografie und des Bild-Erschaffens gelaufen: Sie denken über den Sinn des Ganzen nach!

Wenn Ihre Fotografie keinen rein kommerziellen Hintergrund hat – Sie also keinen monetären Zwängen unterliegen und sich nicht dem Geschmack des Großteils Ihrer Konsumenten beugen müssen –, sollten Sie sich um all diese Überlegungen überhaupt nicht scheren. Halten Sie sich also nie davon ab, etwas zu fotografieren, was bereits jeder vor Ihnen fotografiert hat. Denn SIE SELBST haben es noch nicht fotografiert und SIE SELBST haben das allseits bekannte Motiv noch nicht nach Ihren eigenen Vorstellungen bearbeitet!

Mit eigenen Worten würde ich das dann so umschreiben wollen: Der Fotograf ist hier ein Sammler. Er will das Motiv auch haben und selber bearbeiten als eine Art Trophäe. Das leuchtet mir ein. Weniger plakativ könnte man auch sagen, die eigenen Urlaubserinnerungen wollen festgehalten werden, da bietet sich Fotografie doch geradezu an.

Was aber, wenn ein Sinnsucher durch den Sucher schaut?

Der fotografiert natürlich genauso gerne mal zum Selbstzweck, aber dann braucht er ein menschliches Thema, das fesselt und berührt und ein längerfristiges Projektvorhaben entsteht:

Reportage 1

Reportage 2

Das spannendste Motiv …

… ist immer noch der Mensch. Es gibt Personen, die wurden zigtausendmal abgelichtet, obwohl sie im konventionellen Sinn gar nicht schön sind, da fällt mir spontan Barbra Streisand ein. „Diese Nase, mein Lieber …” 

In der hollywoodfernen Familie sind natürlich die eigenen Kinder oder Eltern das meist fotografierte Motiv. Das Aufwachsen und das Altwerden sind natürliche Phasen unseres Lebens und so können wir die Erlebnisse zumindest einfrieren, auch wenn wir die Menschen einmal gehen lassen müssen (manchmal leider viel zu früh).

Vielleicht ist die Angst vor Verlust und Vergessen eine der stärksten Triebfedern für den Erinnerungsarchivar hinter der Kamera.

Inszenierung auf dem Kindergeburtstag

Wenige dieser Familienbilder sind ungestellt und authentisch. Schon wenn man jemand zum Lächeln auffordert, verfälscht man z.B. den Ausdruck des Filius in der fotografisch höchst interessanten Trotzphase. Kaum etwas ist gestellter als ein Gruppenbild … „Und jetzt alle Daumen hoch!”

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Warum fotografiere ich?

Ich fotografiere, weil mich Menschen interessieren, im Idealfall kann ich die Persönlichkeit zeigen. Vielleicht kann der Betrachter das Bild gar nicht richtig deuten, weil man nur bis zu einem gewissen Grad so etwas Komplexes wie Persönlichkeit in einem Frame darstellen kann. Ich kenne nur wenige Menschen, die vor der Kamera so ganz sie selber zu sein scheinen, dass man glaubt, sie nur vom Anschauen persönlich zu kennen.

Vielleicht ist auch das nur ein Trugschluss, aber wer sagt, dass Fotografie ohne Risiken und Nebenwirkungen auskommt … in diesem Spannungsfeld von Inszenierung und Authentizität operieren wir bei jedem Shoot wie am offenen Herzen.

Wer glaubt, dass er nur einen Termin mit einer fremden Person auszumachen braucht und sofort zu kongenialen Ergebnissen kommt, ist ein großer Optimist. Mein Vorbild Annie Leibovitz sagt, dass sie mindestens einen halben Tag braucht, um einen Menschen kennen zu lernen, und auch im Vorfeld ihre Hausaufgaben machen muss, um möglichst viel Information über den zu Porträtierenden zu sammeln.

Erst Konzept, dann knipsen

Die gezeigten Beitragsbilder sind in Zusammenarbeit mit Tessa-Jean Cook entstanden.

Auf Facebook

Wir hatten uns getroffen, um das Thema „Verzweiflung“ oder vielleicht auch „Verletzlichkeit“ auszudrücken, Themen, die wir in unserer Biografie zeitweise gerne ausgeklammert hätten.

Hier schreibt Tessa über ihre Gedanken zur Kunst:

Tessa speaks her mind

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„Ein Foto ist nur ein Bild, wenn ein Mensch drauf zu sehen ist“

Da immer ein Fazit angemahnt wird, möchte ich mit diesem Zitat von mir selber schließen.

Wo meine Reise hinter dem Sucher hingeht, weiß ich nicht. Tatsache ist, dass mich dabei immer Menschen vor dem Sucher begleiten. Nur in der People Fotografie findet eine Interaktion bildentscheidend statt. Deshalb darf das Fichtelgebirge gerne ohne mich weiterhin im Sonnenaufgang erstrahlen.