Knipseritis, fortgeschrittene

Unposed

Unposed kommt aus dem Lateinischen … nicht … und heißt, dass eine Person möglichst natürlich dargestellt ist, also nicht mit Händchen links an der Backe und rechts auf dem Dekolleté. In freier Wildbahn kommt sowas nämlich nicht vor, keine Frau sitzt im Café mit über dem Sternum gespreizten Händen. Sowas entsteht dann, wenn man das Gesicht recht eng beschnitten aufnehmen will und die Hände noch mit im Bild sein sollen. Wirkt leider arg gekünstelt. Ich liebe dagegen den Unposed-Look, wenn die Menschen möglichst so aussehen wie sie selbst, aber letztlich doch die Körper- und Handhaltung durchdacht ist. Also keine Resting-Bitch-Faces mit Rundrücken.

Resting … häh?

Fast wissenschaftliche Erklärung des Begriffs

Auf einem gelungenen Foto darf es schon etwas mehr sein. Für einen Tänzer/eine Tänzerin wäre es tatsächlich normal, eine Pirouette zu drehen, für einen Kampfsportler ein Karatekick oder ähnliches, auch wenn das definitiv posiert ist. Aber ist das nicht schon die Darstellung einer Tätigkeit, eines Hobbys oder Berufs? Wahrscheinlich ist es das, aber es lässt sich doch wunderbar in eine Porträtsession mit einbauen …

Die Herausforderung dabei besteht immer darin, nicht zu langweilen, sondern zu faszinieren. Klar kann man einen überirdisch schönen Menschen auch mit RBF fotografieren und kann nichts dabei falsch machen. Gigi Hadid schaut auch mit Duck Face, Squinch und Fish Gape toll aus.

Weitere Begriffsdefinitionen

Fish Gape ist das neue Duck Face

Ein Blick ins Portfolio und es ist kein Supermodel vorhanden? Die Leute, die man vor der Kamera wiederfindet, sind einfach unglaublich sympathische Menschen, die ein gelungenes Abbild von sich für die Schwiegermutter brauchen? Es sind allerdings Bewegungslegastheniker mit völlig statischen Hobbys wie Fußballschauen?

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Ich weiß nicht, was Ihr Arzt oder Apotheker empfiehlt, aber ich schwöre da auf ein Home Shoot. Man trifft sich mit jemandem, lässt sich auf dessen Sofa nieder, trinkt ein Käffchen (oder ein Gläschen Prosecco), unterhält sich mit der Person und fotografiert wie nebenbei. Am besten man platziert die Person ins Seitenlicht an einem Fenster mit Gardinen und reißt die Blende auf, damit der Hintergrund unscharf wird. Mir gefallen am besten die Einstellungen, wo beide Augen noch scharf sind, auch wenn der Kopf leicht gedreht ist, aber das ist Geschmacksache.

Das Schöne an den heutigen Digitalkameras ist, dass sie auch bei relativ wenig Licht oft noch sehr rauscharme Ergebnisse bringen, gepaart mit einem günstigen 50 1.8 Objektiv hat man schon das Handwerkszeug für wirkungsvolle Porträts. Jetzt nur noch Kamera gerade halten und nicht wackeln beim Abdrücken … im Zweifel also den Prosecco trinken, nicht den Kaffee 😉

Die beiden Beitragsbilder sind ein Beispiel für Posen, die ich als unposed empfinde. Danke an Marina und Marvin für die tolle Zusammenarbeit.

Schwarz-weiß geht immer ;)

Böse Zungen raten: „Wenn ein Bild nichts geworden ist, mache es schwarz-weiß“. Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Auch meine Überschrift ist ironisch gemeint. Ein schlechtes Bild kann auch nicht gerettet werden, wenn es in monochrom umwandelt wird. Dann wiederum gibt es Motive, die gerade durch ihre Farbigkeit wirken, z.B. ein Blumenstrauß. Aber ein Körnchen Wahrheit ist auch hier zu finden, viele Motive werden interessanter, wenn sie entsättigt werden.

Was früher zu Zeiten von Negativ- und Diapositivfilm eine Einschränkung war, weil Farbfilm entweder noch nicht vorhanden oder teuer war, ist heute oft ein Stilmittel, die Reduktion auf Graustufen nimmt den Farben die Vorherrschaft im Bild und arbeitet Strukturen und Formen heraus. Oftmals wirken die Motive dadurch ausdrucksvoller oder gar dramatisch (starker Kontrast spielt eine wichtige Rolle dabei).

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In meinem Urlaub Anfang März 2016 habe ich mit meiner Kompaktkamera aus der Hüfte heraus Bilder von orthodoxen Juden im Jerusalemer Bezirk Me´a She´arim fotografiert. Ich hatte das natürlich vor dem Urlaub schon recherchiert. Es gibt große Schilder, die am Eingang des Viertels hängen und warnen, sich in kurzen Hosen und Tops zu nähern. Also trug ich lange Hosen und lange Ärmel und eine Baseball Cap, um mich zu tarnen. Man ist also dort als Tourist nicht erwünscht und wird teilweise argwöhnisch beäugt. Deshalb wanderte ich wie gedankenverloren herum und nahm meine Kamera praktisch nie ans Auge. Ich hatte keine Ahnung, ob irgend ein Bild richtig fokussiert sein würde. Aber wie man sieht, waren dann doch gelungene Aufnahmen dabei.

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Als ich eines der Fotos farbig in Facebook postete, schrieb jemand, dass es schwarz-weiß besser sei, da authentischer. Wahrscheinlich kommt diese Sichtweise daher, dass man diese Motive so gewohnt ist und deshalb so erwartet. Original ist die Welt natürlich in Farbe, Graustufen sind schon wieder eine Stufe hin zur Abstraktion. Gerade die bunten Plakate, Schaufenster und Autos lenken ab von den überwiegend dunkel bekleideten Männern und Frauen.

Die meisten meiner Bilder sind sonst eigentlich farbig, manche werden zunächst in schwarz-weiß umgewandelt, aber dann nachgetont, aber es gibt Situationen, in denen ich erleichtert bin, wenn ich die Farben verwerfen kann, z.B., wenn Hauttöne schwierig zu korrigieren sind. Das kommt meist bei ungünstigen Lichtsituationen zustande, wenn es zu düster war oder grünliche Leuchtröhren die Szenerie verfärbten.

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Die Faszination von Street Photography in schwarz-weiß ist bei mir jedoch ungebrochen, auch wenn ich nur im Urlaub dazu komme. Einer meiner Lieblingsfotografen, der ein Meister dieses Sujets ist, hat hier seinen Blog, Olivier Duong:

http://www.theinspiredeye.net/street-photography-blog/

Bildinhalt auf der Flucht

Ein paar ungeordnete Gedanken zur Street Photography

Es gab eine Zeit, da fotografierte ich Dinge, um zu sehen, wie sie fotografiert aussähen. Kerzenflammen, Orchideen, Bäume und Graffitimauern. Aber wenn ich die Bilder heute betrachte, haben sie eigentlich nur noch einen dokumentarischen Wert. Ich erinnere mich an die zeitweise langweilige Familienfeier, bei der die Tischdeko herhalten musste, weil die Anwesenden mir Schläge androhten, wenn ich nicht sofort aufhören würde, Aufnahmen von ihnen zu machen. Kennt man.

Und doch sind Bilder mit Menschen wesentlich interessanter. Nehmen wir alte Stadtansichten, gerade die Kleidung und die Frisuren der Passanten geben der Straße, die man jetzt in stark veränderter Form kennt, das Gesicht der Zeit. Wie gut, dass kurz nach Aufkommen der Fotografie die Leute geradezu wild darauf waren, sich in Grüppchen aufzustellen, um mit aufs Bild zu kommen, war das doch damals etwas ganz besonderes. Zeitgenössische Streetfotografen können ein Lied davon singen, wie fotoscheu wir im Zeitalter der Handyknipser- und Facebookposterei geworden sind. In Deutschland grenzt das teilweise an Fotoparanoia (<– gibt es das überhaupt als Begriff?)

Also Street-Fotografie scheint die größte Bedeutung nach Ableben aller Beteiligter zu haben, worauf das faszinierende Beispiel von Vivian Maier hinzuweisen scheint. Zeit ihres Lebens hat sie viel Filmmaterial belichtet, von dem der Großteil wegen Geldknappheit niemals entwickelt wurde. Vielleicht war dem fotografierenden Kindermädchen auch die Tätigkeit an sich wichtiger als das Auswerten der Negative … Heute sind die Bilder ein unglaublicher Schatz für die Nachwelt, der sich von den 1950er Jahren bis kurz vor ihrem Lebensende 2009 ansammelte.

http://www.vivianmaier.com

Wer heute mit gezückter Kamera durch die eigene Heimatstadt flaniert oder im Urlaub unbekannte Lebenswelten fotografisch erkundet, muss wissen, dass er sich nicht im rechtsfreien Raum bewegt:

http://anwalt-im-netz.de/urheberrecht/recht-am-eigenen-bild.html

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Einer der bekanntesten zeitgenössischen Vertreter der Street Photography ist Thomas Leuthard.

Auf seiner Webseite kann man geniale Galerien und kostenlose E-Books zum Thema finden:

http://thomas.leuthard.photography

In meinem nächsten Auslandsurlaub werde ich wieder rückfällig werden und armen Passanten fotografisch nachstellen. Street Photography ist für einen Fotografen mit Anspruch allerdings problematisch, weil sie anonym ist und dem Zufall unterworfen. Als Reisezeitvertreib reizvoll, aber für die eigene Portfolioarbeit nicht zielführend. Hier bevorzuge ich lieber Projekte mit direktem Personenbezug.

Mein nächstes Vorhaben sind Parcours-Künstler in Bayreuth, wenn sich das Wetter bessert.

To be continued!