Lasst Corona nicht euer Leben kontrollieren
Ulric Nijs aus Belgien ist kein bildender Künstler. Seine Leidenschaft sind Cocktails und besondere Spirituosen, wie der hierzulande wenig bekannte chinesische Baijiu. Man kann sagen, seine Werke sind temporär, sie werden manchmal innerhalb von Minuten hinter die Binde gekippt. Und doch sind sie durchaus als Kunst zu bezeichnen, denn seine Kreationen sind fein aufeinander abgestimmt, die Zubereitung der Cocktails oder Longdrinks wird vor dem Gast zelebriert, es entsteht eine Art Musik für den Gaumen aus Geschmack. Kompositionen, die dem Gaumen schmeicheln – und die natürlich allesamt alkoholisch sind, wie die Schreiberin dieser Zeilen feststellen musste, als sie die guten China-Brände höchstselbst probierte.
Was tut also ein Cocktailmixer und Spirituosen-Berater? Er reist üblicherweise durch die Welt, denn seine Kunden sind weit zerstreut, Japan, China und Venezuela wären 2020 seine Reiseziele gewesen, nur konnte er Deutschland nicht verlassen, aus bekannten Gründen.
Alle Veranstaltungen, auf denen seine Expertise gefragt wäre, wurden abgesagt. Neue Forschungsreisen auf der Suche nach unbekannten aufregenden Baijiu-Sorten in China waren einfach nicht möglich. Auch aktuell ist es sogar für Chinesen nicht einfach, das Land zu verlassen und dann wieder einzureisen. Daher ist es umso schwieriger für Ausländer, dorthin zu gelangen.
Anfänglich dachte Ulric, dass die Pandemie temporär sein würde. Dass er spätestens ab der zweiten Jahreshälfte seine Geschäfte wieder aufnehmen könne. Hier in Deutschland sind die Möglichkeiten für seine Arbeit mit Spirituosen sehr eingeschränkt. In Oberfranken, wohin ihn die Liebe ursprünglich verschlagen hatte, ist es ganz desolat. Die wenigen Jobs, die Cocktailmixen oder Bartending beinhalten, sind für einen Kenner seines Fachs nicht geeignet.
Im Cocktailentwicklungsland Oberfranken hält Ulric die Liebe zu seinem Sohn, den er als sein Leben bezeichnet, und für den er seine beruflichen Aussichten hintanzustellen bereit ist. Aber auch in Metropolregionen, wo es eine Barkultur gibt, hat Corona erbarmungslos zugeschlagen. Rigorose Schließungen von Kneipen oder frühe Sperrstunden haben viele Freunde und Kollegen von Ulrich in Existenznöte gebracht. Gerade die Gastronomie leidet unter dem Wegbleiben der Gäste oder den Maßnahmen, die den Virus einschränken sollen, aber vor allem den Leuten die Lust am Ausgehen vergällen.
Wie finanziert sich Ulric nun, da seine Beratungstätigkeiten weggebrochen sind? Er erzählt mir, dass sein ursprüngliches Hobby, seine Cocktails zu fotografieren, mittlerweile seine Fixkosten zum großen Teil sichert. http://thefullpix.de Er fotografiert Neugeborene in Krankenhäusern im Bayreuther Landkreis und hat so auch die soziale Sicherung von Kurzarbeit genießen dürfen, die ihm als Soloselbständigen sonst nicht zuteil würde.
Die Freizeit konnte er nutzen, um seine Skills in der Produktfotografie zu perfektionieren, was ihm auch Aufträge nebenbei einbringt. Aber das Home Office ist für ihn eher eine Sackgasse, denn seine Fotoobjekte, die Flaschen mit den begehrten Spirituosen, können wegen der Bruchgefahr schlecht per Post versendet werden. Seine Arbeit hängt tatsächlich von persönlichen Exkursionen und Kontakten zu Herstellern und Erzeugern ab.
Die Reisen, die derzeit möglich sind, bringen jedoch auch Nachteile mit sich. So muss Ulric etwaige Quarantänezeiten mit einplanen, was mit seinem Tagesjob kollidieren könnte. Auch innerhalb der EU werden Risikogebiete oder Hotspots ausgerufen, wie z.B. in Brüssel in seinem Heimatland Belgien. Dort findet ein wichtiger Wettkampf für Spirituosen statt, für den Ulric als Preisrichter geladen ist.
Welche Erfahrungen machte Ulric in der Coronausnahmezeit? Zum einen hat Ulric es als angenehm empfunden, die nähere Umgebung um seinen Heimatort zu erkunden und so genoss er es z.B. Ausflüge zum Klettern in die fränkischen Schweiz zu machen, in der er magische Momente erlebte. Statt also in exotische Fernen zu schweifen, blieb er gezwungenermaßen mehr im Lande und fühlte sich aber als Globetrotter ziemlich eingesperrt. Nicht einmal ein spontaner Kurztrip nach Prag ist momentan möglich, was Ulric bedauert, da er dort gerne eine Freundin besuchen würde.
Corona ist nicht die erste Epidemie, die Ulric mitmacht. SARS und MERS hat er selbst vor Ort erlebt und überlebt. Somit schreckt ihn SARS-CoV-2 nicht besonders, auch wenn er selbst zur Risikogruppe gehört. Mehr Sorgen bereiten ihm die finanziellen Folgen, die der Virus für ihn nach sich zieht. Barleute gehen heutzutage zuhauf pleite.
Auch wenn er alles andere als ein Fan von Donald Trump ist, so muss er dem US-Präsidenten Recht geben, wenn er sagt: Lasst Corona nicht euer Leben kontrollieren. Ulric meint, wir müssten alle sterben, aber er selbst möchte nicht wie ein Vogel im Käfig leben, sondern frei fliegen, auch wenn das gefährlich, potenziell gar tödlich sein mag.
Schockiert war Ulric auch darüber, wie sehr sich Leute auf Facebook über das Thema entzweien. Er findet, dass man sich weniger von der Panik einnehmen lassen sollte. Eines Tages wird auch diese Pandemie unter Kontrolle sein und das Leben geht sowieso inzwischen weiter, meint Ulric. Es macht keinen Sinn, sich so verbiegen zu lassen.
Wenn es wieder möglich ist, möchte Ulric wieder hinaus in die weite Welt und neue Geschmacksvarianten finden, mit denen er die Freunde von Spirituosen und Mixgetränken bereichern kann. Auf seinem Gebiet möchte er nach Höheren streben und hat noch viel vor. Das Virus behindert ihn zwar dabei, aber das ist wahrscheinlich nicht die letzte Pandemie, die er erleben wird. Nur ist es eben dieses Mal eine, die seine wirtschaftliche Existenz gefährdet. Daher hofft er auf ein baldiges Ende. Denn in seinem Beruf ist „social distancing“ ein Insolvenzgrund.