Draganismus ist der Kevinismus der Fotografie
Es geschieht tagtäglich in Deutschland, frischgebackene Eltern geben ihrem Sprössling den Namen „Kevin“ (weibliche Form „Chantal“ wie in Chantalismus).
Für sie ist das Neugeborene unvergleichlich und einzigartig und verdient deshalb einen diese Tatsache wiederspiegelnden Namen. Es gibt natürlich noch Varianten zum Thema, „Jayden“ kommt mir in den Sinn oder „Britney“. Allen Namen gemeinsam ist die Wurzel im Englischen und die eingedeutschte Aussprache, gerne auch mit oberfränkischem Zungenschlag, „Tschäidn“ oder „Delli“ (als Abkürzung für die englische Aussprache, „Schantell“), auch französische Versionen des letzteren sind im Gebrauch.
Ich möchte nicht weiter auf dieses Phänomen eingehen, hat es doch ein satirischer Wikipedia-Klon bereits erschöpfend dargestellt:
Link zum Uncyclopedia-Artikel über Kevinismus (Chantalismus)
Nein, ich möchte den allseits beliebten Dragan-Effekt beschreiben, der meines Erachtens als Pendant für diese Namensentgleisungen gelten kann. Man nehme ein völlig unspezifisches Porträt eines bärtigen und vielleicht auch wettergegerbten älteren Mannes (geht auch mit weniger bärtiger Großmutti) und erhöhe den Mittelkontrast so lange bis ein dunkles, dramatisches Bild entsteht, gerne in Schmutzigbraun oder Schwarz-Weiß, mit Betonung auf Schwarz:
Link zum Wikipedia-Artikel über den Dragan-Effekt
In der Bildbearbeitung gibt es ja viele Möglichkeiten, die eigene Ideenlosigkeit oder schlicht auch die Fadheit des fotografierten Bildes mit einem Filter oder einer Aktion auf interessant zu trimmen. Da gibt es Teilentsättigungen (oder auch Color Key, d.h. alles im Bild ist schwarzweiß, nur die roten Rosen des Hochzeitsstraußes bleiben farbig), die ebenfalls keinen alten Hund mehr vor dem Ofen hervorlocken. Wir erinnern uns, wir leben in einer Zeit, da Milliarden von Bildern täglich in den Social Media hochgeladen werden, unsere Aufmerksamkeit zu erheischen.
Auch hier glaubt der Fotograf, der das Bild erzeugt hat, dass es unvergleichlich ist, und deshalb eine besondere Bearbeitung verdient. (Ich möchte jetzt nicht erwähnen, dass hochbegabte Kinder eher „Benjamin“ oder „Johanna“ heißen.) Also ein cooler Filtereffekt macht noch kein gutes Bild. Ein interessantes Foto mit einer verblüffenden oder faszinierenden Bildaussage braucht auch keine Draganisierung. Es ist ferner anzunehmen, dass die Menschen, deren Porträt so auf Mittenkontrast gequält wurden, diese nie zu sehen bekommen. Wer will schon aussehen wie ein Hundertjähriger im zarten Alter von 76?
Eine im Gegensatz dazu beliebte Spielart ist die märchenhafte Weichzeichnung von erstaunlich normalen Mädchenporträts ins Feenhafte und Ätherische. Wer solche digitale Filterorgien anwendet, kann sich sicher sein, dass sich eine Schlange vor dem heimischen Fotostudio bildet. Blumen-Headsets, rüschige Kleider und wallende Umhänge sind wichtige Zutaten des Erfolgsrezepts (die Zielgruppe ist allerdings nicht sehr kaufkräftig).
Nach all der Polemik kann ich nur sagen: „There is no free lunch“. Auch nicht im digitalen Bilderschaffen. Eine kostenlos aus dem Internet geladene Dragan-Photoshop-Aktion macht Dich nicht automatisch zum begnadeten Bildbearbeiter. Ich möchte noch hinzufügen: „Weniger ist mehr“ – ein Slogan, der immer geht. Macht einfach weniger, dafür bessere Aufnahmen. Mist, auch beim Blogschreiben gilt das Prinzip, dass das Ergooglen von mehr oder weniger passenden Zitaten kein Konzept ersetzen kann.
Aber, abschließend gesagt – ich kann nicht anders, es ist stärker als ich: „Erlaubt ist, was gefällt“.